Die Demokratie zu schützen und zu stärken gehört zu den dringlichsten Aufgaben unserer Zeit. Deshalb haben wir uns 2024 auf unserer Fachtagung mit der Frage auseinandergesetzt, wie Familien als Raum, in dem Demokratie erlernt wird, gestärkt werden können.
Jörn Thießen (Abteilungsleiter Heimat im Bundesministerium des Innern und für Heimat) rief in seiner einleitenden Keynote dazu auf, miteinander „Räume des Diskurses für Demokratie“ zu schaffen und sich nicht aus der Diskussion zurückzuziehen. Er stellte die im Mai 2024 verabschiedete Strategie der Bundesregierung „Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus“ vor. Im Hinblick auf das geplante, aber noch nicht verabschiedete Demokratiefördergesetz waren sich Thießen und Teilnehmer:innen einig: Wir brauchen dieses Gesetz, um wertvolle und erfahrene Projekte der Zivilgesellschaft durch eine verlässliche Förderung zu stärken.
Prof. Dr. Christian Krell (Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen) analysierte in seinem Vortrag die Gründe für die Krise unserer Demokratie: Die Menschen erleben gegenwärtig eine Polykrise und haben das Gefühl, dass Staat und Gemeinwesen nicht richtig funktionieren. Das führt zum Vertrauensverlust in Staat und Demokratie, während gleichzeitig die Anfälligkeit für Populismus und Extremismus steigt.
Doch wie können Politik und Zivilgesellschaft diesem Vertrauensverlust begegnen? Grundlage für Vertrauen in die Gesellschaft und das politische System ist ein funktionierendes Gemeinwesen, ergänzt um Demokratieorte, an denen Demokratie breit erlebbar und erfahrbar ist - so Krell. Im Sinne eines „demokratischen Ethos“ rief er dazu auf, eigene optimistische und demokratische Erzählungen zu entwickeln, um wutgesteuerten und demokratieverachtenden Erzählungen zu begegnen.
Mit Grußworten von Staatssekretärin Manuela Strube (Hessisches Ministerium für Arbeit, Integration, Jugend und Soziales) und Oberkirchenrätin Dr. Melanie Beiner (Evangelische Kirche in Hessen und Nassau - EKHN) endete der erste Teil unserer Fachtagung. Zeit und Gelegenheit für weiterführende Gespräche bot der anschließende festliche Empfang, zu dem die EKHN alle Teilnehmer:innen eingeladen hatte.
Zum Einstieg in den zweiten Teil unserer Tagung beschrieb Dr. Christian Lüders (bis 2020 Abteilungsleiter „Jugend und Jugendhilfe“ im Deutschen Jugendinstitut) Demokratiebildung als den Bildungs- und Aneignungsprozess von Subjekten, der in allen sozialen Räumen des Aufwachsens stattfindet (16. KJB). Familien sind ein privater Raum der politischen Sozialisation, in dem (bestenfalls) demokratische Kompetenzen eingeübt und erfahren werden. Eine Unterstützung der dort stattfindenden Bildungsprozesse ist nur indirekt möglich. Laut dem 16. Kinder- und Jugendbericht gehört Familienbildung zu den unterschätzten Räumen der Demokratiebildung. Lüders stellte dar, unter welchen Bedingungen Angebote der Familienbildung ihre wichtige Funktion als Raum für Demokratiebildung wahrnehmen können: Neben Beteiligung und sozialem Lernen in der Familie, ist die Befähigung, bestehende Regeln in Frage zu stellen und sich auf neue Regeln verbindlich zu einigen, zentral. Wichtig ist es auch, einen guten Umgang mit den digitalen Welten zu finden.
Paulina Fröhlich (Bereichsleitung „Resiliente Demokratie“ und stellv. Geschäftsführerin Progressives Zentrum) startete ihren Vortrag mit zwei Aussagen, die aktuellen Studien bzw. Umfragen entstammen: Junge Menschen sind heute rechtsextremer als Ältere! (Mitte-Studie) Junge Menschen sind heute auch einsamer als Ältere. (Destatis) Einsamkeit als subjektives Gefühl ist kein Zufall - sie betrifft junge Menschen, wenn sie unter finanziellem Druck stehen, bereits von zu Hause ausgezogen sind oder eine Migrationsgeschichte haben. Dies stellt die von Fröhlich vorgestellte Kollekt-Studie fest. Menschen, die sich häufig einsam, unverbunden und unverstanden fühlen, haben mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit antidemokratische Einstellungen. Einsamkeitsprävention spielt deshalb gerade auch bei Jugendlichen eine große Rolle. Paulina Fröhlich stellte den Teilnehmer:innen den Methodenkoffer gegen Einsamkeit vor, in dem das Progressive Zentrum konkrete Methoden zur Adressierung von Einsamkeitserfahrungen und zur Förderung demokratischer Einstellungen präsentiert.
Im Anschluss ging es hinaus in den herrlichen Wald, der das Tagungshaus umgibt. Unter fachkundiger Anleitung schauten, schnupperten, lauschten und tasteten die Teilnehmer:innen und lernten so die wohltuende Wirkung des Waldbadens kennen.
Ein entscheidender Aspekt tauchte in jedem der Fachvorträge auf: Wir brauchen Orte, an denen Demokratie erfahren, trainiert und gestaltet werden kann. Wir brauchen Räume für einen offenen, demokratischen Diskurs. In den Workshops erkundeten die Teilnehmer:innen drei ausgewählte Räume für Demokratieerfahrungen und erarbeiteten Bedingungen, unter denen diese ihren Beitrag zur Demokratiebildung leisten können.
Christin Reuter (Evangelische Familienbildung Reinickendorf) und Birgit Harpering (Elternschule Altona) erkundeten mit den Teilnehmer:innen die besondere Rolle, welche Angebote der Familienbildung für Demokratiebildung von Anfang an spielen. Die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen für Eltern und alle, die Erziehungsverantwortung übernehmen, unterstützt diese dabei, einen demokratischen Erziehungsstil zu erlernen und umzusetzen. Dazu gehört eine offene und respektvolle Kommunikationskultur genauso wie die Auseinandersetzung mit ethischen und moralischen Fragen, vor allem in Bezug auf eine werteorientierte Erziehung und auf Lebens- und Sinnfragen. Die Teilnehmer:innen trugen zusammen, welche Faktoren erfolgreiche Demokratiebildung in Familienbildungseinrichtungen möglich machen und erarbeiteten gemeinsam, welchen Beitrag Politik und Kirche dazu leisten sollten.
Kristina Eifert von der externen Fach- und Koordinierungsstelle „Demokratie leben“ im Vogelbergkreis stellte den Teilnehmer:innen das Projekt Gemeinschaftsgärten des evangelischen Dekanats Vogelsberg vor. Es bietet Jugendlichen Experimentier- und Gemeinschaftsräume und damit Orte, an denen auch Demokratie wachsen kann. Als junge Familien kommen sie dann zurück in „ihren“ Garten, der für sie eine Brücke zwischen Jugend und Familie darstellt. Das Angebot und die Nutzung von niedrigschwelligen Gemeinschaftsräumen kann die Basis dafür bilden, dass jugendliche Unterstützer:innen von Kirchengemeinden in der Familienphase nicht verloren gehen.
Oft wird das demokratische Potential von kirchlichen Räumen für junge Familien nicht ausgeschöpft. Die Teilnehmenden erarbeiteten deshalb Vorschläge und Forderungen an Kirche und Politik.
Mario di Carlo vom Thementeam Demokratiekompetenz und Jugendmedienschutz bei der „Medien und Bildung RLP“ stellte das Projekt „Democracy Gym“ vor. Das Projekt unterstützt Fachkräfte dabei, Jugendliche mit Kreativität und Witz innerhalb ihrer Lebensrealitäten für die Demokratie begeistern – und so die demokratische Gesellschaft fit zu halten. Die Teilnehmer:innen durften die Methoden des „politischen Fitnessstudios“ ganz praktisch ausprobieren und erörterten gemeinsam, was Familien für die Entwicklung von Medienkompetenz und Demokratieverständnis leisten können.
Zum Abschluss der Tagung schaute Bundesgeschäftsführerin Svenja Kraus gemeinsam mit Dr. Josefine Koebe, Mitglied des Hessischen Landtags, und Oberkirchenrat Dr. Steffen Merle, an welchen Stellen die Erkenntnisse aus den drei Workshops in die konkrete Arbeit von Politik und Kirche einfließen könnten. Koebe würdigte insbesondere die Arbeit der Familienbildungsstätten und ermutigte Haupt- und Ehrenamtliche, sich in demokratischen Gremien zu engagieren, um mehr Sichtbarkeit für die Familienbildung, ihre Angebote, Bedarfe und Forderungen zu schaffen. Merle stellte die gemeinsame Initiative von EKD und Diakonie #VerständigungsOrte vor: Kirchengemeinden, diakonische Einrichtungen und andere kirchliche Institutionen schaffen Räume, in denen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen und sich über gesellschaftliche Probleme austauschen können.
Auf den inhaltlich intensiven Tag folgte ein unterhaltsamer Abend: Nach der „Uraufführung“ unseres Interviewfilms vom Kirchentag 2023 stellten uns Franziska Wallenta und Pascal Adam von der eaf Hessen ihr Projekt „Familienpolitische Bar“ vor - ganz praktisch mit eigenhändig gemixten Cocktails und informativen Gesprächen an der Bar.