„Corona als Krise des Sozialen“
Die Coronakrise berührt uns nicht nur als individuelle Körper, sondern auch als soziale Wesen. Ich werfe vor diesem Hintergrund einen kommunikations- und mediensoziologischen Blick auf die Krise. Dazu beschreibe ich zunächst die Mediatisierung gesellschaftlicher Kommunikation und arbeite im Anschluss daran heraus, wie diese mediatisierte Kommunikation in Coronazeiten Familien und Individuen betrifft und herausfordert.
Die Gesellschaft kommt ohne menschliche Körper nicht aus. Patient:innen müssen in Krankenhäusern versorgt werden, der Müll muss abgeholt, die Waren einsortiert werden. Manchmal ist es sogar unabdingbar, dass Menschen miteinander reden. Doch das ändert wenig daran, dass unsere Gesellschaft eine ist, die Varianten des Kommunizierens gefunden hat, die es nicht erfordern, dass Leute zur selben Zeit und am selben Ort miteinander sprechen. Das kommunikative Geschehen entkoppelt sich dabei immer mehr von der körperlichen Anwesenheit. Die vertraute Medientechnik des Telefons zeigt bereits, das Menschen auch zur gleichen Zeit miteinander sprechen können, wenn ihre Körper sich weit voneinander entfernt aufhalten. Wir haben uns technisch gestützte Routinen angeeignet, die es uns erlauben, in Verbindung zu bleiben, auch wenn wir räumlich voneinander entfernt sind. Corona radikalisierte diese Bedeutung mediatisierter Kommunikation.
Daraus ergeben sich jedoch Probleme für den privaten und familiären Kontext. Das erste Problemfeld betrifft die Art der Interaktion, die wir medien- und vor allem videovermittelt erleben. Mediatisiertes Zusammenkommen findet nämlich kaum spontan statt. Sie wird organisierter. Wenn aber unsere beruflichen und privaten Interaktionen nach denselben Schemata ablaufen, beginnt sich das Privatleben der Logik der formalen Organisation anzunähern. Das öffentliche Leben schrumpft räumlich zusammen und das private Heim wird zur Schaltzentrale des beruflichen Lebens.
Das führt mich zur zweiten Herausforderung. Neben das Problem der physischen Distanzierung tritt nämlich das Problem des Kollabierens von sozialer Distanz. Seit es Briefe gibt, kann das Privatleben weit entfernter Personen uns behelligen. Seit es Massenmedien wie die Zeitung, das Radio und das Fernsehen gibt, ist die Öffentlichkeit regelmäßig zu Gast im Privaten. Mit dem Internet und seinen zunehmend mobilen Interfaces ist aus diesem Gast ein dauerhafter Mitbewohner geworden.
Kommunikationssoziologisch betrachtet wird die Familie also durch die Radikalisierung mediatisierter Kommunikation in doppelter Art und Weise in die Zange genommen. Sie einerseits ganz auf sich zurückgeworfen und wird andererseits von den Logiken organisierter Bildschirmkommunikation und medialer Dauerpräsenz drangsaliert. Dem hat sie gesellschaftlich wenig entgegenzusetzen. Denn die Familie hat schon lange ihren gesellschaftlichen Primat verloren. Sie ist nur noch eine Gesellungsform neben anderen.
Neben der Familie stehen andere private Gesellungsformen und eben auch und gerade formale Organisationen. Die Familie ist keineswegs mehr der Ort, wo gesellschaftlich alles zusammenläuft. Unsere Gesellschaft hat ihre zentralen Funktionsbereiche entfamiliarisiert.
Die Funktionssysteme moderner Gesellschaften kommen grundsätzlich ohne Familien aus. Politische Entscheidungsfindung und -durchsetzung, wirtschaftliche Produktion und Konsumtion, wissenschaftliche Forschung und Entwicklung – all diese Institutionen sind im Vergleich zu früheren Gesellschaftsformationen nur noch lose an Familensysteme gekoppelt. Das hat der Familie viele Freiheiten gegeben. Man muss bei Heirat und Familienplanung typischerweise nicht mehr im gleichen Maß wie früher auf den Rest der Gesellschaft Rücksicht nehmen. Familien konnten so zum Ort für gelebte gesellschaftliche Intimität werden. In der übrigen Gesellschaft werden Menschen vor allem als Rollenträger angesprochen: etwa als Konsument:innen, als Wähler:innen, als Angestellte. In der Familie können sie hingegen als ganze Personen thematisch werden.
Der Preis der Entkopplung der Familie von den Funktionslogiken moderner Gesellschaft ist aber, das familiäre Belange zu anderen gesellschaftlichen Erfordernissen und Imperativen in Konkurrenz stehen und oft genug ins Hintertreffen geraten. Dies ist in der Coronakrise sehr deutlich geworden. Es zu kompensieren und die Familie vor den – nun auch zunehmend medial präsenten – Zudringlichkeiten der gesellschaftlichen Funktionssysteme und Organisationen fernzuhalten ist eine wichtige Problemstellung der Familienpolitik in der Krise. Dieser wird im öffentlichen Diskurs auch durchaus Aufmerksamkeit geschenkt. Es gibt aber noch eine zweite Herausforderung, die meiner Wahrnehmung nach etwas weniger Beachtung findet. Diese betrifft das Verhältnis von Familie und Individuum.
Es kommt nämlich in der modernen Gesellschaft zu einer doppelten Entkopplung, einerseits zur Differenzierung von Familie und gesellschaftlichen Institutionen. Andererseits kommt es aber auch zur Differenzierung von Familie und Individuum. Durch die moderne Differenzierung von Familie und Gesellschaft erhalten wir nämlich zugleich als Individuum neue Freiheiten – Freiheiten von der Familie nämlich. Denn ständig als ganze Person thematisch werden zu müssen kann extrem belastend sein. Die Rollenspiele, die wir außerhalb der Familie spielen können, eröffnen uns viele Möglichkeiten, die die familiäre Interaktion nicht bietet. Wir können und müssen außerhalb der Familie nur Angestellte sein, oder Sportbegeisterte, oder Partygänger:innen. In solchen selektiven Spezialrollen entkommen wir den Ansprüchen familiärer Pflichten und Zwänge. Wir können zugleich Distanz zur Familie gewinnen und neue Verhaltensweisen unserer Selbst erproben und kultivieren.
Durch Corona konnten wir durch mediatisierte Kommunikationsformen weiterhin als Rollenträger in eher kühlen Konstellationen agieren. Wir konnten etwa Angestellte im Home-Office, Konsument im Onlinehandel oder Briefwähler:in sein. Zu kurz gekommen sind aber Rollenkontexte, die uns durch Gesellungsformen außerhalb der Familie eröffnet werden.
Daher betone ich noch einen zweiten Aspekt der Familienpolitik in der Coronakrise. Nicht nur muss nach Wegen gesucht werden, die Familie vor dem Zugriff der restlichen Gesellschaft zu schützen. Gleichzeitig dürfen wir auch nicht vergessen, dass wir Individuen Auswege aus der familiären Enge schulden.
Univ.-Prof. Dr. Sascha Dickel auf der eaf-Jahrestagung „Familienpolitik krisensicher gestalten“
15. September 2021, Stephansstift Hannover