Vortrag „Kirche in der Pandemie: Neue Wege zu den Familien?“

Landesbischof Ralf Meister auf der eaf-Jahrestagung 2021
„Familienpolitik krisensicher gestalten“

„Kirche in der Pandemie: Neue Wege zu den Familien?“

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Pandemieerfahrungen - Der Beginn einer Reflektion

„Online-Gottesdienste, To-Go-Tüten, Einkaufsdienste, Stationenwege, Wäscheleinen mit Segensversen, Online-Beratung in Krisenfällen, Lernräume.“ Erste Stichworte, wenn wir fragen, wie Kirche in den vergangenen Monaten für Familien da war. Dabei ist die Pandemie noch längst nicht vorbei. Die Reflexion hat gerade erst begonnen. Wie werden wir in den kommenden Monaten aus der Pandemie-Erfahrung heraus gelangen? Schauen wir anders auf das, was wir zurückgelassen haben? Sehen wir neu, was uns bevorsteht? Es sind eine Fülle von Fragen, die uns bewegen, wenn wir diese Erschütterung unseres Lebens hinter uns lassen werden. Carolin Emke, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, schreibt in ihrem Tagebuch in Zeiten der Pandemie: „Wer soll das sein, dieses Wir, wenn die Lasten, die Privilegien, der Status so ungleich verteilt ist?“(1) Uns traf, trotz der vielen geteilten Erfahrungen, ein Bündel von individuellen Schicksalen. Der eine bangte um seine Existenz als Selbstständiger, die zweite verlor einen nahen Angehörigen, der dritte durchlebte mit Nachwirkungen die Infektion, die vierte kämpfte bis zur Erschöpfung um Menschenleben auf der Intensivstation, der fünfte war im Homeoffice mit drei Kindern im Homeschooling. Die Normalität wurde durchbrochen, weil mit Corona ein Riss durch die Lebenswelt ging, der vertraute Orientierungen zerlegte.(2) Und dieser Riss ist nicht nur ein sozialer Riss, sondern einer, der Millionen persönlicher Lebensvorstellungen und -träume vernichtete. Wir sind an unsere Grenzen gekommen. Im beruflichen wie auch im familiären Kontext. Jede und jede für sich allein, in der Kernfamilie und als Gesellschaft. Und, wie die ersten Statistiken erschreckend belegen, mancherorts ging die Belastung auch über Grenzen hinaus. Eine aktuelle Studie der Technischen Universität München belegt, dass in 6,5 Prozent der befragten Familien Kinder Opfer körperlicher Gewalt zu Hause waren und dabei oft Katalysatorfunktion übernehmen mussten. Bei Familien mit Kindern unter 10 Jahren waren es 9,2 Prozent. Durch die Corona-Pandemie kam es zu Risikofaktoren, die Gewalt gegen Kinder wahrscheinlicher machten: Jobverlust der Eltern oder Kurzarbeit durch die Corona-Krise, akute finanzielle Sorgen und Quarantäne zuhause führten zu Gewalt gegen Kinder.(3) Wir sind als Kirche herausgefordert, an diesen Grenzen entlangzudenken. „Euer Ort des Nachdenkens sollen die Grenzen sein. Und tappt nicht in die Versuchung, sie zu lackieren, zu parfümieren, sie ein wenig aufzuhübschen und zu zähmen.“ So hat es Papst Franziskus formuliert. Das gilt besonders auch für die Frage nach (neuen) Wegen der Kirche zu den Familien.(4)

Vielfalt der Sorgegemeinschaften

Allem, was wir jetzt reflektieren und uns für die Zukunft vornehmen, liegen Grunderkenntnisse zugrunde, die unabhängig von der Pandemie galten und weiterhin gelten. Wir müssen uns verabschieden von alteingesessenen Vorstellungen und über Grenzen hinausdenken, gerade als Kirche. DIE Familie gibt es nicht. Die Rollenzusammensetzungen und Familienbildungsprozesse sind vielfältig geworden. Von „der“ Familie zu sprechen bedeutet, zumindest von Ehepaarfamilien, Paarfamilien, Mehrgenerationenfamilien, Alleinerziehenden, Lebensgemeinschaften mit Kindern oder Erwachsenen mit Care-Arbeit für ihre Elterngeneration zu sprechen, um nur die größeren Kategorien der Sorgegemeinschaften zu nennen. Diese Formen von Familie und Kirche sind als soziale Systeme nicht per se aufeinander bezogen. Cornelia Coenen-Marx hat das plastisch beschrieben: „Zwar werden Ortsgemeinden oft von einigen wenigen Familien getragen, deren Mitglieder sich in Kirchenvorstand, Jugendarbeit oder auf Freizeiten engagieren, doch lebt die Beziehung der meisten zur Gemeinde eher punktuell zu den Kasualien auf. Das distanzierte Verhältnis hat verschiedene Gründe. Familien sind in ihrer religiösen Orientierung nur noch selten homogen. Neben der unterschiedlichen und unterschiedlich intensiven kirchlichen Bindung spielt das Gefühl eine Rolle, mit der eigenen Form des Familienlebens als konfessionsverschiedene, Patchwork- oder Regenbogenfamilie, Alleinerziehende oder Pendler nicht wirklich „dazuzugehören“. Hinzu kommen die Zerreißproben und Überlastungen in der Rushhour des Lebens – gerade während der Konfirmandenphase tritt der Sonntagsgottesdienst in zeitliche Konkurrenz nicht nur zum Sport, sondern auch zum Familienfrühstück. Kirche wird dabei oft genug als Anforderung an ein „heiles Familienleben“, nicht aber als Unterstützung in Krisenzeiten erlebt.“(5)

Das System „Familie“ ernst nehmen

Die Menschen in ihren vielfältigen familiären Konstellationen brauchen eine Kirche, die sie in ihrem „Doing Family“ ernst nimmt. „Doing Family“ ist eine vergleichsweise junge soziologische Kategorie für das Geschehen innerhalb der vielfältigen Formen von Familie. Der Kerngedanke ist, dass Familie nicht einfach gegeben ist, sondern beständig neu verhandelt werden muss in einer sog. „Herstellungsleistung“. Dabei geht es um Fragen der Beziehungen, der Zugehörigkeit und der Identität der einzelnen Familienmitglieder mit den zentralen Fragen „Wer gehört zu uns? Wie wollen wir leben? Was ist uns wichtig? Wer übernimmt welche Aufgaben? Wie organisieren wir uns?“(6) Jede Familieneinheit wird so zu einem autonomen Mikrokosmos, der beständig sein Aufeinanderbezogensein verhandeln muss. Wie sehr Familie ein solcher Mikrokosmos ist, hat die Pandemie gezeigt. Will Kirche relevant für diese Familien sein, muss sie sich als bedeutsam für diesen Mikrokosmos erweisen. Wenn man sich vorstellt, wie anstrengend diese beständige „Herstellungsleistung“ ist, könnte man an dieser Aufgabe verzagen. Christian Grethleins Hinweis auf Jesu Kommunikationsverhalten mag dabei tröstlich und motivierend zugleich sein: Jesus hatte drei Arten, mit den Menschen zu kommunizieren. Er sprach mit den Menschen und veränderte so ihre Einstellung und ihr Verhalten (lehren und lernen). Er aß und trank mit den Menschen, gemeinschaftliche Feiern wurden zum Bild der Gottesnähe. Er heilte Menschen und befreite sie aus ihren Verstrickungen.(7) Deutlich wird daran, dass die Kommunikation des Evangeliums nicht losgelöst von alltäglichen Kommunikationsprozessen geschieht, sondern in sie eingebettet ist.

Familienarbeit der Kirche zwischen Gemeinwesen- und Gemeindeorientierung

Zwei Blickwinkel ergeben sich, wenn Kirche nach Wegen zu Familien fragt.(8) Der erste Blickwinkel kommt aus der Perspektive des Gemeinwesens. Die Familie und ihre Bedürfnisse bestimmen die Angebote, die die Gemeinde macht. Die Gemeinde selbst versteht sich dabei als ein Anbieter im Kontext vieler, die das Gemeinwesen vor Ort bestimmen.
Der zweite Blickwinkel nährt das gemeindliche Anliegen der Weitergabe des christlichen Glaubens und der Förderung des kirchengemeindlichen Geschehens. Das ist die Perspektive der Gemeindeorientierung.
Beide Perspektiven haben ihr Recht. Und es wäre nicht dienlich, sie gegeneinander auszuspielen. Praktisch heißt das, dass „Kirche Angebote bereitzuhalten hat, die Familien sowohl im Doing Family wie auch im Doing Religion unterstützen und beides auch konstitutiv aufeinander beziehen können.“(9) 

Die Pluralität der Familienformen ist dabei die große Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Sie führt zu einer stärkeren Vielfalt religiöser Ausdrucksformen. Dem trägt die klassische Gemeindearbeit bislang oft noch nicht genügend Rechnung. Kirchlichkeit hat bei uns institutionelle Züge und ist deshalb mit der Vorstellung des Langfristigen verbunden. Das macht sie anschlussfähig für bestimmte Familienkonstellationen. Für andere aber eben überhaupt nicht.

Schauen wir noch einmal auf Jesu Kommunikation, dann wird deutlich: Nur im Sich-Einlassen auf die konkreten Herausforderungen ist ein Weg zu den einzelnen Familien zu finden. Diese Erkundung von familiärem Leben eröffnet den Blick, wie Menschen heute ihr Leben leben, wo Probleme und Potentiale liegen. Die Zeit der Pandemie hat das Familienleben konzentriert auf wenige Lebensäußerungen. So war es von außen möglich, eine temporäre Bedürfnislage in den Familien aufzuspüren. In nuce konnten wir erproben, was uns in einer pandemielosen Zeit angesichts der Vielfalt der Angebote schier unmöglich ist. Hier seien noch einmal die „To-Go-Tüten“ genannt. In vielen Kirchengemeinden wurden sie von kreativen Menschen entwickelt und von vielen fleißigen Helferinnen und Helfern an die Familien mit Kindern verteilt. In den ersten Monaten waren sie rettende Anker in der Dauerfrage: Wie beschäftige ich mein Kind? Als die Osterzeit zum zweiten Mal in einen Lockdown fiel, war aus vielen Gemeinden schon zu hören: Die Eltern wollen keine To-Go-Tüten mehr. Die Kinder wollen raus und nicht mehr allein zu Hause sein. Diese - in diesem Fall - offensichtlichen Bewegungen genau zu beobachten und in Handeln umzusetzen, wird eine Kernaufgabe unseres Tuns werden. An diesem Beispiel können wir eine Entwicklung beobachten, die bildend für unser künftiges Handeln sein kann.

Es bleiben viele weitere Beobachtungsfelder: Wie gehen wir um mit einer veränderten Arbeitskultur, bei der Homeoffice weitaus mehr als vor der Pandemie zum Familienalltag gehören wird? Was lernen wir aus der Erfahrung der Einkaufshilfen für vulnerable Gruppen in der Pandemie? Sind neue Beziehungen gewachsen oder sind wir stark in der Krise und brauchen dann wieder den Rückzug ins Private? Halten wir Lernräume aufrecht, die die evangelischen Kirchen in Niedersachsen gemeinsam mit dem Kultusministerium errichtet haben mit Bildungs- und Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche, die in Zeiten der COVID-19-Pandemie in ihrem schulischen und persönlichen Leben mit Einschränkungen und besonderen Nachteilen umgehen mussten? Wo begleiten wir Menschen mit welchem Angebot?

Die Nordkirche hat eine Ritualagentur gegründet, um unkompliziert erreichbar zu sein an den Schwellen und in Brüchen des Lebens. Wie gehen wir in Zukunft um mit diesen Schwellensituationen in den Sorgeverbänden, die sich Familie nennen? Bei Hochzeiten, Taufen und Konfirmationen, bei Kindergartenentlassungen und Einschulungsfeiern, bei der Schulentlassung oder auch, wenn Kinder und Jugendliche durch die Scheidung ihrer Eltern belastet werden? Widmen wir uns neu einer gezielten Kasualtheologie oder bleiben wir beim vielfach Bewährten, weil das Alltagsgeschäft uns keine Zeit lässt?

Suche nach Identität

In all dem stellt sich mir die Frage nach Identität. Identität von Kirche und Kirchengemeinde vor Ort. Und Identität derer, die wir in den Blick nehmen oder die zu uns kommen. Ich habe die Zeit der Pandemie als Zeit des Exils erlebt. Viele wollten lieber das Bild der Wüstenwanderung. Da ist zumindest das Ziel im Blick, wenn auch vielleicht in weiter Ferne. Für mich birgt diese Zeit etwas anderes. Zeiten des Exils sind Zeiten großen Heimwehs. Und dabei ist es erst einmal völlig gleichgültig, ob das, wonach ich mich sehne, ein verlorenes Idyll war, oder manchmal sogar ein Ort der Begrenzungen. Im Heimweh sehnt sich der Mensch nach dem Vertrauten. Wir leben aus den Wiederholungen, in ihnen versichern wir uns unserer kulturellen Identität. In den biblischen Geschichten lesen wir, genauso wie bei den Autorinnen und Autoren des Exils, von diesen Erfahrungen. Kulturelle Identität ist an Zeiten und Räume ebenso wie an Sprache und Geschichte gebunden. Und sie lebt immer in der Gemeinschaft. Sie lebt im Austausch mit Menschen, die ähnliches teilen, die die gleiche Sprache sprechen, die in ähnlicher Art und Weise leben. Zur Bewahrung braucht es gemeinsame Identitätspunkte. Nicht durch Zufall wurde in der Exilzeit der Sabbat gepflegt. Der Sabbath war das Merkmal der Gemeinschaft. Er ordnete in der Unordnung der Zeiten die Chronologie. Jeder siebente Tag; so wie bei Gott, soll es bei uns sein. Zusammen mit dem Brauch der Beschneidung wurde gewährt, dass die religiöse Identität bewahrt blieb und sich nicht auflöste.
Darin sehe ich eine wichtige Aufgabe von Kirche – gerade auch im Blick auf die „Herstellungsarbeit“, die Familien zu leisten haben. Zur Identität gehört bis heute für die meisten Menschen auch eine religiöse Identität, zumindest aber eine wie auch immer geartete Sinnsuche, ein spirituelles Grundbedürfnis. Wir sind trostbedürftige Wesen. Wir brauchen diesen Trost, der uns gewiss macht, dass unser Leben einen Sinn hat und der uns die unerträglich großen Fragen ertragen lässt, die kein Familienverbund beantworten kann. Dieser Trost ergibt sich auch nicht in der Selbstbespiegelung. Jeder weiß, wie kurzzeitig die selbstinszenierten Tröstungen sind, Trostkäufe zum Beispiel. Für diese Notlagen brauchen wir den Imperativ. Die Aufforderung, im wachen Zustand die Welt zu betrachten, wie sie ist und verantwortlich zu handeln. Die Zeit des Exils ist eine Zeit der Selbstbesinnung, der Identitätsfindung. Eine Zeit der Erinnerung an das, was wirklich trägt. Diese Erinnerung zu befördern, Antworten zu geben, Räume zu schaffen, die außerhalb des Mikrokosmos Familie liegen, die ihn deuten und zugleich stützen, das ist eine unserer Kernaufgaben – und zugleich ein Alleinstellungsmerkmal, das wir sorgsam herausarbeiten sollten.

Landesbischof Ralf Meister auf der eaf-Jahrestagung „Familienpolitik krisensicher gestalten“
15. September 2021, Stephansstift Hannover

(1) Carolin Emcke, Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie Frankfurt a. M. 2021, S. 65.

(2) vgl. https://books.ub.uni-heidelberg.de/heibooks/reader/download/701/701-4-9….

(3) Vgl. Prof. Dr. Janina Steinert u.a., The Impact of COVID-19 on Violence against Women and Children in Germany, Technische Universität München, 2021.

(4) Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Prof. Dr. Michael Domsgen, Welche Kirche brauchen Familien? Vier Antwortfacetten in praktisch-theologischer Perspektive, (PDF) Domsgen Welche Kirche braucht die Familie | Michael Domsgen - Academia.edu.

(5) Cornelia Coenen-Marx, Die Bedürfnisse von Familien und der Auftrag der Kirche, Erlangen, Vortrag von 2018, auf www.seele-und-sorge.de.

(6) Vgl. Karin Jurczyk u. a. (Hg.), Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist, Weinheim 2014.

(7) Vgl. Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin, Boston 2012, 163-167 nach M. Domsgen, a.a.O.

(8) Vgl. Michael Domsgen, ebd., S. 5 ff.

(9) Ebd., S. 6.